Jiyu hörte das tiefe Bedauern in der Stimme des Werwolfes, als er dem jungen Naga erklärte, wie es in dieser ihm so fremden Welt zuging. Es stimmte, er wusste kein bisschen, wie es hier zu ging. Er hatte, so lange er sich zurückerinnern konnte, im Palast seines Herren gelebt. Mit Dämonen war er aufgewachsen und die Gesetze der Dämonenreiche waren ihm mehr als vertraut. Selbst mit der Geografie und der sonstigen Politik kannte er sich in dieser Hinsicht hervorragend aus, in den Dämonenreichen würde er sich überall zurecht finden. Nur... hier waren nicht die Dämonenreiche. Hier war ein Land, eine Welt, die er noch nie betreten hatte und die ihn fast das Leben gekostet hatte. Über kurz oder lang wäre er verhungert oder an Unterkühlung gestorben, wenn Raoul ihn nicht gefunden hätte... und der erklärte ihm jetzt sogar, wie es hier lief. Im Prinzip nicht viel anders als bei den Dämonen. Die Reichen herrschten über die Armen und die Armen mussten sich dafür alles gefallen lassen. War es denn hier sogar noch schlimmer? Waren hier alle ohne Reichtum Sklaven derer mit Reichtum? Wie ungerecht es hier doch zuging – doch wenn Jiyu eins gewohnt war, dann himmelschreiende Ungerechtigkeit. Er hatte sie sein Leben lang ertragen müssen, da würde er es hier auch überleben. Sofern... Allein würde er es nicht schaffen. Er konnte nichts anderes als andere zu unterhalten und zu befriedigen. Raoul dagegen hatte ein so großes Herz... sprach sogar davon, sein Freund zu sein. Doch was war aus seinem letzten Freund geworden? Heishin wurde geköpft, weil er eine tiefe Zuneigung zu dem schlanken Naga entwickelt hatte. Was, wenn sie Raoul genauso hinrichten ließen, weil er sich nun um ihn kümmern wollte? Nein, das wollte Jiyu nicht nochmal erleben. Er wollte nicht, dass noch einmal jemand wegen ihm sein Leben lassen musste. Und besonders nicht Raoul... wenn es so war, wie er sagte, dass Werwölfe Aussätzige waren, dann konnte er doch erst recht nicht verantworten, dass man ihm noch mehr wehtat. Nein, er war so nett zu ihm... Das Grollen, dass der Wolf dann von sich gab, als Jiyu ihn kraulte, erschreckte ihn keinesfalls, er kannte das von den Hunden im Palast und auch von sich selbst. Auch wenn er sehr selten die Gelegenheit dazu bekam, wirklich zu grollen. Aber wenn es Raoul so sehr gefiel, warum nicht? Auf die Rede des Werwolfes antwortete er nicht mit Worten, es war nicht nötig und er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Es war ihm unangenehm, keine zufriedenstellende Antwort geben zu können, aber so wie er Raoul schon jetzt einschätzte, erwartete dieser das wohl auch nicht. Er kraulte den Wolf also einfach weiter im Nacken, es machte ihn auch selbst wesentlich ruhiger und entspannte ihn.
Dass er seit Tagen nicht wirklich vernünftig gegessen hatte, merkte man ihm stark an, er war dankbar für alles Essbare, was er bekam und nie hatten ihm Brot und Schinken so gut geschmeckt. Er war generell sehr dankbar für alles, was ihm Gutes getan wurde, aber jetzt war er dankbar für die Chance, zu überleben. Er bemerkte nicht, dass Raoul sich wieder zurückverwandelte und war dementsprechend doch sehr überrascht, als er ihn plötzlich ansprach, nachdem er den größten Hunger gestillt hatte. Dieses Mal blieb sein Blick allerdings wie für ihn typisch zu Boden gerichtet und richtete sich nicht erst auf zu den bernsteinfarbenen Augen des Größeren. Eingeschüchtert nickte der Naga, Raoul hätte nicht erst fragen müssen. Allerdings zuckte Jiyu dann urplötzlich zusammen, als ihm drei Tatsachen auffielen. Er sah auf seine schmalen Hände hinunter und entdeckte dort die langen, spitzen Krallen. Er fühlte die scharfen, kräftigen Eckzähne, durch die sein tödliches Gift floss. Und er fühlte zu allem Überfluss auch die gespaltene Zunge in seinem Mund und verkrampfte sich einen Moment. Er hatte sich zwar nicht völlig verwandelt, aber... es musste Raoul einfach aufgefallen sein. Die Instinkte waren mit ihm durchgegangen, ob wegen des Hungers oder weswegen sonst, aber er hatte sich quasi offenbart und das ohne Erlaubnis. Er zuckte unwillkürlich zusammen und begann zu zittern, während er hastig die Krallen und Fänge wieder einzog und auch die Zunge wieder wandelte. Sicher hatte Raoul ihm gesagt, dass hier die alten Regeln nicht mehr galten... aber die Strafen waren damals einfach zu groß gewesen. Er war zu oft geprügelt worden um jetzt einfach so alles zu vergessen... Strikt hielt er den Blick Richtung Boden und wagte es nicht, aufzusehen. Er wartete nur darauf, dass Raoul sich seine Wunde besah.